Ein Komet am Himmel der Baukunst
Zum Tod des spanischen Architekten Enric Miralles
Schnelligkeit war seine hervorstechende Eigenschaft. Wer je sein Atelier in
der Altstadt von Barcelona besucht hat - und es war längst zu einer
Pilgerstätte für junge Architekten aus aller Welt, zu einem eigentlichen
Workshop geworden -, der konnte Enric Miralles' Aufnahme-, Koordinations-
und Vermittlungsfähigkeit nur bewundern. Nun ist dieses Architektenleben
unerwartet, obwohl sich Miralles unlängst in Houston (Texas) wegen eines
Hirntumors in medizinische Behandlung begeben hatte, in seiner Geburtsstadt
Barcelona zu Ende gegangen. Spaniens grösstes Architekturtalent seiner
Generation ist lediglich fünfundvierzig Jahre alt geworden.
Miralles verdiente sich seine Sporen bis 1984 bei Viaplana und Piñón. Deren
Bahnhofplatz Sants, sofort als Ikone eines neuen Urbanismus erkannt, gehört
zu den ersten Arbeiten, bei denen Miralles' unverkennbare Handschrift
sichtbar wurde. Dann entstanden, bis 1989 in Zusammenarbeit mit seiner
ersten Frau Carme Pinós, so innovative Bauten wie die Schule La Llauna in
Badalona, die olympische Bogenschiessanlage in Barcelona und das Internat in
Morella. Auf dem Friedhof von Igualada, einem seiner lyrischsten und
zugleich strengsten Werke aus jener Zeit, wurde Miralles am Dienstag zu
Grabe getragen.
In den neunziger Jahren begann sein Stern auch am internationalen
Architekturfirmament zu leuchten. Als Dozent in Frankfurt und Barcelona, in
Harvard und Columbia spielte Miralles seine Gabe aus, das diffizile
Gleichgewicht zwischen Chaos und Ordnung zu halten, das auch seine
Architektur kennzeichnet. Es entstanden die grossen Sportpaläste in Alicante
und Huesca sowie - als erster Bau ausserhalb Spaniens - ein Bahnhofzugang in
Takaoka, Japan. Von den zahlreichen internationalen Wettbewerben, zu denen
Miralles nun eingeladen wurde, gewann er jene für das schottische Parlament
in Edinburgh und die Architekturschule in Venedig. Die Ausführung dieser
Hauptwerke bleibt nun seiner zweiten Frau und Partnerin, der Italienerin
Benedetta Tagliabue, überlassen. Am meisten am Herzen lag Miralles in
jüngster Zeit aber die Planung für das Quartier, in dem er selbst lebte. Als
die Erneuerer der barcelonesischen Altstadt mit ihren Tabula- rasa-Methoden
zunehmend auf Kritik stiessen, nahmen sie Zuflucht bei dem renommierten
Anwohner, der sich der Sache - insbesondere der Neuplanung des Marktes Santa
Caterina - mit der ihm eigenen Energie und dem ihm eigenen Gespür annahm. In
Barcelona wird er künftig auch mit seinen Entwürfen für die Urbanisierung
Diagonal-Mar sowie - sein erster Wolkenkratzer - dem direkt am Meer
liegenden Hauptsitz des spanischen Grossunternehmens Gas Natural präsent
sein. Der letzte Bau, dessen Fertigstellung er noch erlebte, ist die
Musikschule in Hamburg.
Miralles war ein unermüdlicher Erfinder, dem man mit der Schubladisierung
als «Dekonstruktivist» nicht wirklich gerecht wird. Unter seiner Hand
gerieten Pläne zu geheimnisvollen Kunstwerken, und seinen Fotocollagen mass
er dieselbe Bedeutung bei wie jenen aus Stahl und Beton gebauten Wildbächen,
die als seine grossen, aber immer mit einem Augenzwinkern geschaffenen Werke
bleiben werden.
Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung, 5. Juli 2000