Die Zeit 26 august 2004  
 
Was der Osten wirklich braucht  
 
Allen Wunderheilern und Demagogen zum Trotz – jetzt ist Standfestigkeit gefragt. Drei Vorschläge für den Aufbau in den neuen Bundesländern  
 
Von Helmut Schmidt  
 
Nie werde ich meine Freudentränen über die friedliche Öffnung der Berliner Mauer vergessen. Sie war gefallen dank der Gesinnung der Demonstranten, dank der Vorarbeit der polnischen Solidarnoœæ, dank der friedlichen Vernunft Gorbatschows und auch der kommunistischen Führungen in Budapest, in Prag und in Ost-Berlin. Heute, anderthalb Jahrzehnte später, bin ich traurig über die unbefriedigenden wirtschaftlichen Zustände in Ostdeutschland – und besonders darüber, dass so viele Menschen dort sich dazu verleiten lassen, ihr heute selbstverständlich risikofreies Demonstrationsrecht zu benutzen, um gegen ein notwendiges Gesetz zu protestieren.  
 
Allerdings kann ich ihre Ängste gut verstehen, auch den Zorn, der sich seit langen Jahren aufgestaut hat. Denn seit 1995 ist der wirtschaftliche Aufholprozess in den ostdeutschen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im Westen, die Wertschöpfung liegt bei weniger als zwei Dritteln. Zwar haben inzwischen viele ein Auto und fast alle ein Telefon. Aber viele der Jüngeren, die zu Hause keine Arbeit gefunden hatten, sind in den Westen abgewandert. Die Zurückgebliebenen leiden seelisch unter der anscheinend ausweglosen Arbeitslosigkeit.  
 
Von den leichtfertigen Versprechungen des Jahres 1990 sind nicht allzu viele wahr geworden, nicht die wirtschaftlich »blühenden Landschaften«, auch nicht die Westlöhne. Die tiefgreifende Enttäuschung war unvermeidlich; sie hat sich in den vergangenen acht Jahren immer mehr aufgestaut. Viele im Osten fühlen sich vom Westen getäuscht, bevormundet und herabgesetzt. Wenn jetzt die unvernünftige Ängstigung hinzukommt, so ist der Zorn vieler zwar sachlich nicht gerechtfertigt, wohl aber menschlich verständlich.  
 
 
Man war seit Generationen gewöhnt, dass Regierung und Staatspartei für alles sorgen. Wenn jetzt der Staat seine Leistungen einschränken muss und dabei versäumt, verständlich zu erklären und zu begründen, was geschehen muss, welche Wirkungen eintreten, aber ebenso, welche Ängste unbegründet sind, dann sollte die Regierung über die propagandistischen Erfolge von ehrlich Empörten, von opportunistischen Demagogen und von ökonomischen Wunderheilern nicht erstaunt sein. Jürgen Peters, Frank Bsirske, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine gehören allen drei Kategorien zugleich an. Dagegen fehlt es an verständlich dargebotener Aufklärung! Deshalb ist heute für die Abgeordneten des Bundestages und der sechs Landtage im Osten (einschließlich Berlins) nichts wichtiger, als in jeder Stadt Hartz-Sprechstunden, öffentliche Frage-und-Antwort-Veranstaltungen, Aussprachen mit den Landräten und Bürgermeistern zu veranstalten. Dazu sind dann allerdings Stehvermögen und Tapferkeit unerlässlich.  
 
Ebenso wichtig ist die Ehrlichkeit, Fehler und Versäumnisse einzugestehen. Nicht »der Kapitalismus« hat die ostdeutsche Industrie brotlos gemacht, sondern der Kardinalfehler, 1990 die bislang staatlich festgesetzten Preise und Löhne von einer Mark Ost auf eine DM West umzustellen.  
 
Die Privatisierung der alten Staatsunternehmen der DDR war prinzipiell richtig; falsch waren die Methode und das Tempo. Es war einem Bürger der DDR finanziell unmöglich, einen der »volkseigenen« Betriebe zu übernehmen, deshalb gerieten fast alle in die Hände kapitalkräftiger westdeutscher Firmen und Unternehmer – und damit weitgehend in die Hände westdeutscher Manager. Auch diese letztere Entwicklung ist nicht rückgängig zu machen, wohl aber kann sie im Laufe von ein bis zwei Jahrzehnten überwunden werden, soweit die westdeutschen Eigentümer jüngere Menschen im Osten zu Managern ausbilden und heranziehen. Dass die Privatisierung durch die Treuhand die Staatsschuld um rund 400 Milliarden vermehrt hat, ist freilich nicht mehr zu ändern.  
 
 
Ein anderer Fehler der Wendezeit, der wesentlich zur heutigen wirtschaftlichen Misere beigetragen hat, war die Übertragung von über 80000 Paragrafen westdeutscher Gesetze und Rechtsverordnungen (dazu kamen noch unzählbare weitere Tausende von anderen Vorschriften), die den Bürgern der DDR ohne Übergangsfristen, ohne Anpassung an die dortigen Umstände einfach übergestülpt worden sind. Obschon die DDR-Bürger daran gewöhnt waren, die Anordnungen ihrer Obrigkeit – mehr oder minder – zu befolgen, wurden sie über Nacht unsinnigerweise mit einem gewaltigen Wust neuer, für sie undurchschaubarer Gesetze konfrontiert. Deswegen musste man sich Kohorten von Beamten und auch Politikern aus dem Westen holen und sie zu Behördenleitern, Bürgermeistern und Landesministern machen.  
 
Viel schlimmer aber war die Erstickung der persönlichen Initiative der Bürger. Wer als Ostdeutscher im Osten eine eigene Firma aufmachen wollte, der brauchte und braucht auch heute noch viel mehr Mut und mehr intelligente Wendigkeit als ein Westdeutscher, der in der geltenden Rechts- und Bürokratielandschaft aufgewachsen ist und damit umzugehen weiß. Deshalb fehlt es im Osten an selbstständigen Gewerbetreibenden und an mittelständischen Unternehmen. Es ist aber der Mittelstand und nicht die Großindustrie, von dem die Mehrzahl der neuen Arbeitsplätze erwartet werden muss. Deshalb ist es nötig, den Osten für mindestens 15, besser für 25 Jahre von einer großen Zahl einengender Vorschriften zu befreien. Und das ist auch möglich!  
 
Prinzipiell gut und zweckmäßig war, dass die alte Bundesrepublik in großem Maßstab zunächst den Aufholprozess der ehemaligen DDR finanziert hat und heute den dortigen Lebensstandard weiterhin finanziert. Gegenwärtig liegt der Saldo aller Übertragungen öffentlicher Finanzmittel jährlich zwischen 80 und 90 Milliarden Euro (Saldo bedeutet: die in Ostdeutschland erhobenen Steuern und Sozialabgaben sind abgezogen). Dies ist eine große Leistung der westdeutschen Steuer- und Beitragszahler. Sie wird bisher in Ostdeutschland kaum anerkannt und gewürdigt, leider auch kaum von den ostdeutschen Rentnern.  
 
Die Kaufkraft der heutigen Renten in Ostdeutschland liegt wesentlich höher als jemals in der alten DDR; sie liegt weit über der Kaufkraft aller Renten in allen anderen ehemals kommunistisch regierten Staaten. Auch dieses Beispiel muss auf den Bürgerversammlungen im Osten deutlich erklärt und erläutert werden: Der US-amerikanische Militärhaushalt macht jährlich etwa vier Prozent des amerikanischen Sozialprodukts aus – aber diese vier Prozent haben den Status einer militärischen Supermacht ermöglicht. Die alljährlichen westdeutschen Finanzübertragungen nach Ostdeutschland machen ebenfalls vier Prozent des deutschen Sozialproduktes aus! Dieser Vergleich verdeutlicht das Ausmaß der Transferleistungen. Der Osten muss anerkennen: Eine ungeheure Leistung!  
 
Die Agenda 2010 inklusive Hartz IV zielt auf den gesamten deutschen Arbeitsmarkt, nicht etwa speziell auf den Osten. Sie ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Liste der dringend notwendigen Erneuerungen, die Roman Herzog im April 1997, noch zu Zeiten der Kohl-Regierung, in seiner Adlon-Rede vorgelegt hat. Herzog hat den »Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression« festgestellt; er appellierte an alle, den »Modernisierungsstau in Deutschland« zu überwinden. Aber weder Kanzler Kohl und seine schwarz-gelbe Koalition noch Kanzler Schröder und seine rot-grüne Koalition haben bis zum Frühjahr 2003 auch nur einen einzigen wesentlichen Teil von Herzogs Vorschlägen aufgegriffen. Erstmalig hat Kanzler Schröder am 14. März 2003 einen positiven Anfang gemacht. Der Kanzler hat verstanden: Das Wohlergehen des Vaterlandes muss höher stehen als das der eigenen Partei. Hut ab vor seiner Standfestigkeit!  
 
Kein Politiker, egal welcher Partei, hat bisher ernsthaft versucht, den Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft zu beschleunigen. Schon seit Kohls Zeiten ist keineswegs damit zu rechnen, dass ein allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung in Deutschland auch zum Aufholen der ostdeutschen Wirtschaft oder gar zum Einholen des großen westdeutschen Vorsprungs führen würde. Wenn nichts speziell zugunsten des Ostens geschehen sollte, so wird man im Jahre 2020 feststellen, weitere 15 Jahre nach der Vereinigung, dass es zwar auch im Osten vorangegangen ist, dass aber von Aufholen keine Rede sein kann.  
 
 
Deshalb brauchen wir für die Wirtschaft im Osten eine besondere, allein den Osten begünstigende wirtschaftspolitische Anstrengung. Dafür stehen mindestens drei Vorschläge zur Verfügung – nicht etwa zur Auswahl, sondern zur gleichzeitigen Verwirklichung.  
 
Erstens. Der Osten hat die Beseitigung einer Vielzahl von behindernden Paragrafen und Genehmigungsinstanzen nötig. Die ostdeutschen Landtage brauchen Spielraum für Deregulierung, damit sich ein gewerblicher Mittelstand entwickeln kann. Dafür müssen durch Grundgesetz und Bundesgesetz die sechs ostdeutschen Landtage ermächtigt werden, durch Landesgesetzgebung vom bisher geltenden Bundesrecht abzuweichen – so im Bau- und Planungsrecht, im Arbeitsrecht, im Wirtschaftsrecht und so weiter; detaillierte Vorarbeiten dafür liegen seit Jahr und Tag auf den Tischen der Wirtschaftsminister.  
 
Zweitens. Jede Wertschöpfung im Osten braucht eine deutlich spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz, zum Beispiel bis zum Jahre 2020 nur den halben Steuersatz. Vor einem Dutzend Jahren haben Karl Schiller und Tyll Necker diesen Vorschlag gemacht. Er ist immer noch vernünftig, zweckmäßig und einfach.  
 
Drittens. Der Vorschlag, alle bisherige Wirtschaftsförderung im Osten künftig stark auf regionale Schwerpunkte – »Wachstumskerne« – zu konzentrieren, ist dagegen erst seit einem halben Jahr auf dem Tisch. Er ist der wichtigste Teil eines ganzen Pakets, das der »Kurskorrektur des Aufbaus Ost« dient. Die Urheber, an ihrer Spitze Klaus von Dohnanyi und Edgar Most, sind die besten Fachleute, die der Kanzler finden könnte. Er sollte ihren Ratschlägen folgen.  
 
 
Alle diese Vorschläge werden vielerlei Argwohn, Kritik und Ablehnung provozieren. Viele wollen auf der Welle der Anti-Hartz-Propaganda mitschwimmen. Zwar werden die Landtagswahlkämpfe im September einige Prämien für populistischen Opportunismus bereithalten, zumal zugunsten der PDS. Sie werden aber offenbaren, wer über Vernunft und Charakter verfügt, über Stehvermögen und Tapferkeit.  
 
Die politische Klasse unseres Vaterlandes beginnt das Vertrauen zu verspielen, das die Bürger früher in sie gesetzt haben. Aber immer noch ist sich die große Mehrzahl der Politiker in den beiden großen Volksparteien ihrer Verantwortung bewusst – im Gegensatz zu manchen der gefälligen politischen Selbstdarsteller in den Fernseh-Talkshows oder in der Bild-Zeitung. Die Verantwortungsbewussten stehen zu den Gesetzen, die sie im Bundestag und im Bundesrat beschlossen haben.  
 
Die Agenda 2010 war eigentlich schon 1996 fällig. Eigentlich hätten wir heute schon längst eine Reihe weiterer Erneuerungen in Arbeit haben müssen. Eigentlich müssten wir schon längst die enorm schwierige Frage klären, wie wir uns denn darauf vorbereiten wollen, dass binnen sehr weniger Jahrzehnte über die Hälfte aller lebenden Deutschen älter sein wird als 60 Jahre. Wenn wir uns nicht reformieren, dann ist bereits lange vorher weder das heutige frühe Rentenalter aufrechtzuerhalten noch die Höhe der ausgezahlten Renten. Wir stehen also vor enormen Problemen. Nur weniges kann so bleiben, wie es heute ist. Deshalb sind die Demonstrationen gegen den ersten richtigen Schritt bestenfalls kurzsichtig und jedenfalls abwegig.  
 
In Notzeiten müssen die Verantwortlichen zusammenwirken, so wie während der Flut in Sachsen und Brandenburg und wie zur Zeit des RAF-Terrorismus. Frau Merkel hat gesagt, die CDU/CSU sei »zu einer nationalen Anstrengung bereit«. Kanzler Schröder sollte auf sie zugehen und sie beim Wort nehmen. Eine Große Koalition ist deswegen nicht nötig.