Opa war beim KGB - Enkelin wirbt für Cola
Das 24-jährige Topmodel Tatjana Semitschastnaja ist das russische "Gesicht" der weltberühmten Brause
Moskau - "Silberne Verführung", verspricht die amerikanische Getränkemarke Coca-Cola ihren Kunden von Moskauer Plakatwänden. Ein hübsches, halb nacktes Mädchen mit leuchtend grünen Augen lächelt den Betrachter an. Die 24-jährige Tatjana Semitschastnaja, eine Brünette mit den Maßen 83/61/87, ist eines der bekanntesten russischen Fotomodels. Sie wirbt für Unterwäsche, Brause, Kosmetik, atemfrische Lutschbonbons. Ihr Familienname lässt indes vielen Russen das Blut in den Adern gefrieren. Tatjana ist die Enkelin des berüchtigten KGB-Chefs Wladimir Semitschastnij, der seine Karriere dem Kampf gegen den "Kapitalismus" und den "amerikanischen Imperialismus" widmete.
Generaloberst Semitschastnij (1924-2001) war von 1961 bis 1967 Vorsitzender des sowjetischen Geheimdienstes. Er spielte 1964 eine Schlüsselrolle beim Sturz Nikita Chruschtschows, obwohl der ihn jahrelang protegiert hatte. 1967 "beförderte" Leonid Breschnew den KGB-Chef zum Vize-Vorsitzenden des Ministerrats in die Ukraine und damit ins politische Abseits. Semitschastnij wurde auch literarisch verewigt: Er taucht namentlich in einem James-Bond-Roman auf. Nicht zimperlich war er im Umgang mit politischen Feinden. Über den Dissidenten und Schriftsteller Boris Pasternak, dem er Verrat am Vaterland vorwarf, sagte der KGB-Boss: "Sogar ein Schwein scheißt nicht dorthin, wo es frisst. Nicht so Pasternak."
Semitschastnij war auch der Initiator des Schauprozesses gegen die Schriftsteller Julij Daniel und Andrej Sinjawskij, die beide zu langjährigen Lagerstrafen verurteilt wurden. "Auf jedem mir anvertrauten Posten habe ich versucht, das in mich gesetzte Vertrauen der Partei und der Regierung zu rechtfertigen", sagte Semitschastnij später. Drei Bücher hat er geschrieben, das letzte, seine Autobiografie "Unruhiges Herz", wurde nach seinem Tod veröffentlicht. 2001 erlag der Generaloberst einem Schlaganfall, war damit einer der wenigen KGB-Chefs, die eines natürlichen Todes starben. Zuvor hatte er noch Präsident Wladimir Putin vorgeworfen, den Geheimdienst verkommen zu lassen.
"Ich weiß nicht, ob mein Großvater überhaupt Werbeclips mit mir gesehen hat", sagte Tatjana gegenüber der Moskauer Zeitung "Komsomolskaja Prawda". "Als er noch lebte, war ich mir nicht sicher, ob ich Model werden wollte", erzählt die junge Frau, die das Moskauer Institut für Landvermessung absolvierte, bevor sie eine Profikarriere bei der Agentur "Modus Vivendis" begann. Verboten hätte der Großvater ihr das Modelbusiness wohl nicht. "Er war keiner, der anderen seine Meinung aufzwingen wollte." Die 171-Zentimeter-Schönheit mit der Traumfigur macht vor allem Werbefotos, lehnt Nacktaufnahmen ab.
Ihren berühmt-berüchtigten Großvater hat sie nur noch als "Politrentner" erlebt. Einzelheiten über sein Leben habe sie erst jetzt erfahren, ein Jahr nach seinem Tod, aus seinen Büchern. "Ich habe mich gefürchtet, ihm Fragen zu stellen. Ich war ein kleines Mädchen, und er hätte nur Scherze gemacht. Überhaupt war er ein sehr lustiger Mensch, ein Mann mit Humor." Als kaltblütigen und skrupellosen Machtmenschen hat sie ihren Großvater nicht erlebt. "Ich kannte ihn nur als netten Opa. Mir half er nur ein bisschen, als ich am Institut studierte. Er gab mir Geld für die Mensa."
Die russische Öffentlichkeit reagierte gelassen auf die Enthüllung von Tatjanas Familiengeschichte, zumal das Model bemüht ist, möglichst wenig mit dem Großvater in Verbindung gebracht zu werden. Für mehr Empörung sorgte ein anderer Aspekt der Kampagne: "Zu sexy" fanden sie einige Bürger und bildeten ein Komitee "Für die moralische Wiedergeburt des Vaterlandes", das gegen so viel Erotik eine Protestnote veröffentlichte.
Von Jens Hartmann
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Sonntag, 11. August 2002
