Datum: 14.05.1994
Autor: Rudolf Scharping
Schonungslose Bestandsaufnahme
Bemerkungen anläßlich der wiederholten Lektüre von Al Gores "Wege zum
Gleichgewicht"
Nach "Grenzen des Wachstums" von 1972, "Global 2000" von 1980 ist Al Gores
"Wege zum Gleichgewicht" der dritte wichtige Anstoß aus den USA, um zu einem
ökologischen Kurswechsel zu kommen, den wir nicht länger verdrängen wollen.
Statt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus das gute Ende der Geschichte
auszurufen, beschreibt Gore in seinem Buch, das schon ein politischer
Klassiker unserer Zeit ist, wie die Erde zunehmend die soziale und
ökologische Balance verliert. "Wege zum Gleichgewicht" sind eine
schonungslose Bestandsaufnahme des Zustands unserer Welt, die in den letzten
zwei Jahren nichts an Aktualität verloren hat: "Wir sind tatsächlich dabei,
den Garten Eden mit dem Bulldozer zu planieren."
Die reale Möglichkeit einer Klimakatastrophe, die Ausdünnung des
lebensschützenden Ozonmantels, das Artensterben oder die Vernichtung unserer
Wälder - all dem liegt ein gestörtes Verhältnis zwischen der menschlichen
Zivilisation und ökologischem Gleichgewicht der Erde zu Grunde. Aber diese
Gefahren sind nicht zwangsläufig, sondern das Ergebnis eines hohen
Reformdefizits unserer Gesellschaften.
"Die Zukunft der menschlichen Zivilisation hängt ab von unserer Pflege der
Umwelt und damit - ebenso wichtig - die Bewahrung unserer Freiheit." Mit Al
Gore setzt erstmals ein Spitzenpolitiker der USA seine ganze Kraft dafür
ein, "den Kampf um die Rettung der Umwelt zum zentralen Organisationsprinzip
unserer Zivilisation" zu machen. Gore will mehr als Umweltschutz; vielmehr
Wirtschaft und Technik eine neue Richtung zu geben, die unter dem Ziel einer
"dauerhaften Entwicklung" steht.
Sollte es mit Hilfe der mächtigen Vereinigten Staaten von Amerika gelingen,
daß die Forderung nach "sozialer und ökologischer Humanität", wie Willy
Brandt dies nannte, nicht länger an Kirchenwänden verhallt, sondern Eingang
in die Wirtschaftspolitik, Entwicklungslabors, Finanzpläne, ja letztlich in
unser alltägliches Verhalten findet?
Die Dimension der Herausforderung beschreibt Al Gore selbst: "Marginale
Korrekturen, begrenzte Verbesserungen, Lippenbekenntnisse anstelle
wirklicher Veränderungen - all das sind Formen von appeasment, um einer
Öffentlichkeit entgegenzukommen, die hofft, daß es ohne Anstrengungen
abgehen möge." Die Gefahr für unsere Umwelt besteht deshalb nicht nur in der
Bedrohung selbst, sondern auch in unserer Wahrnehmung der Bedrohung: Denn
viele Menschen wollen den Ernst der Lage nicht wahrhaben.
Viele verkennen aber auch die großen Chancen, die in sozialen und
ökologischen Reformen liegen - weitaus größere Chancen als in dem
fragwürdigen Versuch, wie bisher weiterzumachen. Ich stimme der Grundidee
von Al Gore ausdrücklich zu: Mit einem "doppelten Generationenvertrag", wie
ich die Aufgabe sozialer und ökologischer Solidarität nenne, ohne die keine
Gesellschaft auf Dauer existieren kann, können wir Fortschritt und Zukunft
zurückgewinnen und die Demokratie festigen. Wenn sich solidarisches Denken
entwickelt und wir den lähmenden Egoismus der letzten Jahre abstreifen, dann
werden erforderliche Maßnahmen leichter durchführbar sein.
Gore fordert deshalb mehr Verantwortung, vor allem von den Eliten, die
häufig versuchten, schwierigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen und
Wahrheiten zu ignorieren. "Die gegenwärtige Schwäche unseres politischen
Systems spiegelt das Versagen wider, unsere Fähigkeit zur
(Selbst-)Verantwortung zu fördern." Ich stimme ihm zu: Angesichts der großen
Herausforderungen nach den Umbrüchen dieses Jahrzehnts wäre
Verantwortungslosigkeit eine der "tödlichsten Bedrohungen der Demokratie".
Doch Verantwortung kann niemand allein übernehmen, gefordert ist eine große
Gemeinschaftsanstrengung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirksam - und
so gerecht wie möglich - zu reformieren.
"Time to change", dieses in den USA erfolgreiche Wahlmotto hatte zwei
handfeste Gründe, die auch für unser Land gelten: Zum einen der notwendige
innenpolitische Kurswechsel, um den Ballast der konservativen 80er Jahre
abzuwerfen, und zum anderen das Bewußtsein von "neuen strategischen
Bedrohungen, insbesondere die Zerstörung der Umwelt, deren Wurzeln in jeden
Bereich der Gesellschaft reichen". Bill Clinton und Al Gore stehen, jeder
mit seinen Schwerpunkten, für diesen Wandel durch Reformen.
Natürlich muß auch gefragt werden, was sich verändert hat, zumal unter dem
Druck der weltweiten Rezession die Umweltpolitik einen schweren Stand hat.
Aber gerade das scheint mir die zentrale These von Al Gore zu bestätigen,
daß es nicht allein um mehr Umweltschutz im engeren Sinne geht, sondern um
den viel weitergehenden Versuch, die Gesellschaft insgesamt durch einen
sozialen und ökologischen Strukturwandel zu reformieren. Dafür gibt es in
den USA mittlerweile eine ganze Reihe ermutigender Hinweise.
"Wege zum Gleichgewicht" ist in der Denkweise ein auf Ausgleich zielendes
Buch. Denn es geht vom Grundsatz des Gleichgewichts aus - wir würden
solidarischer Ausgleich sagen. So wie der Sozialstaat, dem wir in den
westlichen Demokratien sozialen Frieden zu verdanken hatten, da der
Ausgleich zwischen sozialen und ökonomischen Interessen erfolgreich gesucht
wurde, so ist heute eine derartige Integrationsleistung zugunsten des
Friedens mit der natürlichen Umwelt gefordert. Ersteres zu bewahren und
letzteres zu erreichen - das ist die zentrale Herausforderung an die
Politik. Deshalb sind die Ideen von Al Gore unverändert eine Ermutigung und
Verpflichtung an sozialdemokratische Politik.