Russland zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und politischer Friedhofsruhe.  
 
 
 
 
 
Von Uwe-Jens Karl  
 
 
Pessimismus macht sich breit und ein allgemeines Sich-einrichten mit dem Status Quo.  
 
 
Der Ölpreis bei über 60 Dollar, pralle Staatskasse und dennoch Stillstand allenthalben. Kulisse statt Substanz, Ruhe statt Stabilität, Phrasen statt Konzepte.  
 
Fast hätte man wieder russische Seeleute einfach absaufen lassen. Auf Geheiß von höchster Stelle sollte die siebenköpfige Besatzung der "Priz" vor Kamtschatka der Unversehrtheit unterseeischer Horchanlagen geopfert werden. Der anonyme Anruf einer der Ehefrauen bei einem lokalen Radiosender erst brachte den Unfall ans Licht. Nach fast 24 Stunden. Ein Menschenleben zählt hier nichts. Auch nicht nach "Kursk" und Beslan.  
 
Immerhin einer hat Verantwortung für Beslan übernommen: Der meistgesuchte tschetschenische Terrorist Schamil Bassajew. Der Mann hat inzwischen so viel auf dem Kerbholz, dass er das Ende eines eventuellen Prozesses schon aus Altersgründen wohl nicht mehr erleben würde. Zweifelhaft indes, dass er je vor Gericht stehen wird. Die russische Armee, die seit zehn Jahren Krieg in Tschetschenien unter Ausschluß der Öffentlichkeit führt, kann ihn einfach nicht finden. Andrej Babizkij, ein Reporter von Radio Liberty, führte mit ihm vor wenigen Tagen jedoch ein einstündiges Interview, und ABC strahlte es aus. Peinlich für die G8-Großmacht Russland. ABC hat seither Arbeitsverbot in Russland.  
 
Kontrollieren, kompromittieren, liquidieren. Ungefähr so stellt sich Putins Vertikale der Macht heute dar. Klinisch rein ist er inzwischen der politische Raum Russlands, gesäubert von pluralistischem Unrat wie parlamentarischer Opposition, gesellschaftlicher Kontrolle und aufmüpfigen Medien. An ihre Stelle traten vom Kreml erschaffene und finanzierte Parteien wie Jedinstwo und Jugendorganisationen wie Naschi. Ganz aktuell ist das Projekt einer "Gesellschaftskammer" mit 126 Mitgliedern. Von denen werden 42 vom Präsidenten berufen, die dann die nächsten 42 wählen, die dann die nächsten 42 wählen... Die total entmündigte Gesellschaft entsteht von oben.  
 
Ganz unten ist inzwischen Michail Chodorkowskij, der jetzt, da das westliche Medieninteresse an ihm erloschen ist, in eine Zwölf-Mann-Zelle ohne TV und Zeitungen zu gewöhnlichen Kriminellen verlegt wurde. Die Vertikale macht ihn fertig, und die unlängst noch entrüstet trompetende Westpresse ignoriert ihn. Das Thema Yukos/Chodorkowskij hat sein Verwertungspotenzial ausgereizt. Seine exemplarische Botschaft indes scheint noch nicht alle erreicht zu haben.  
 
Zum Beispiel Michail Kasjanow. Der Ex-Premier will partout nicht ausschließen, dass er 2008 für das Amt des Präsidenten kandidieren könnte. Prompt fand sich ein Jedinstwo-Parlamentarier, der Kasjanow bei der Staatsanwaltschaft wegen eines Grundstücksgeschäfts anschwärzte. Ermittlungen, Drohungen, Druck. Das übliche Spiel. Kasjanow hat das Land verlassen und die Vertikale ihr Ziel erstmal erreicht.  
 
Die Korruption ist das schwerste Problem im Land. Das sehen nicht nur deutsche Geschäftsleute hier so. Die Vertikale der Macht hat daran nichts geändert. Und sie wird es auch nicht, denn Korruption macht abhängig und angreifbar. Natürlich nur die Anderen, die gerade nicht an der Tete sind. Aber das System braucht die informelle Abhängigkeit und Angreifbarkeit der Anderen, um sich bei Bedarf ihrer entledigen zu können. Siehe Chodorkowksij und Kasjanow. Dass der Commerzbank-Telekominvest-Skandal Putin und seiner Umgebung nichts anhaben konnte - auch, weil er in den russischen Medien nicht vorkam - ist charakteristisch für dieses System. Kein Staatsanwalt kam auch nur auf die Idee zu ermitteln.  
 
Bezeichnend in diesem Zusammenhang auch der seit drei Jahren schwelende Konflikt um Villen und Datschas, die an den Seeufern des Wasserschutzgebietes im Norden Moskaus illegal errichtet worden sind. Während die Millionen-Anwesen der politischen und wirtschaftlichen Elite, an denen sich der Streit einst entzündete, inzwischen keine Rolle mehr spielen, haut der Staat ein paar Kilometer weiter ein Dutzend Sperrholz-Datschas kurz und klein. Ihre Bewohner sind für die Vertikale irrelevant, das harte Durchgreifen aber für die Behördenstatistik ein willkommenes Feigenblatt.  
 
Mit Individuen wie Chodorkowskij und Kasjanow wird die Vertikale der Macht, wie wir gesehen haben, relativ einfach fertig. Schwieriger kalt zu stellen sind dagegen unbotmäßige Clans wie der von Jurij Lushkow, dem Moskauer Stadtoberhaupt. Der etwas ungelenke aber sehr mächtige Bürgermeister erhielt nie Zugang zu den erlauchten Kreisen im Kreml, wohl, weil man den Einfluss seines Clans aus altgedienten Moskauer Nomenklaturkadern fürchtete. So stand Lushkow sowohl unter Jelzin als auch unter Putin eigentlich immer unverschuldet in Opposition zum Kreml. Eine komplizierte Rolle für jemanden, der auf dem Höhepunkt seiner Amtszeit Ende der Neunziger auf Augenhöhe mit den Staatsoberhäuptern der Welt kommunizierte und die schwerreiche Finanz- und Wirtschaftsmetropole Moskau damit dem direkten Zugriff des Kremls entzog. Offensichtlich soll sich das nun ändern. Verdutzt musste Lushkow vor Wochenfrist die Beförderung seines wichtigsten Mitstreiters und Vizes, Valerij Schanzew, zum Gouverneur von Nishnij Nowgorod zur Kenntnis nehmen. Ein gerissener Schachzug des Kreml-Clans, der mit dieser nachhaltigen Schwächung Lushkows dessen politisches Ende einleitet und Moskau kurzfristig gleichschaltet.  
 
Geschickt nutzt der Präsident die sich selbst erteilte Vollmacht zur Ernennung der Gouverneure zur Straffung seiner Vertikale. Auch wenn sie, wie im Falle Schanzew, gelegentlich der Schwächung eines Anderen dient. Schon bald könnte sich der zweite Moskauer Gefährte Lushkows und Ex-Minister für Steuern und Abgaben, Georgij Boos, als Gouverneur in Kaliningrad wiederfinden. Oder Viktor Wechselberg, einer der russischen Top-Oligarchen, in gleicher Position auf Kamtschatka. Putin hat am Beispiel Roman Abramowitschs auf Tschukotka erkannt, dass man die neuen Wirtschaftspotentaten nicht immer gleich einsperren muss, nur weil sie unredlich zu ihrem Reichtum gelangt sein könnten. Man kann sich zum eigenen Vorteil auch mit ihnen arrangieren, sie sich quasi als "Mitarbeiter" unterstellen. Macht ausüben, indem man Gunst gewährt oder entzieht.  
 
Mitte 2005 beschreibt man Putins Russland am zutreffendsten als autokratischen Staatskapitalismus, in dem eine handverlesene Nomenklatura für Meinungsbildung von oben nach unten sorgt, die konformistischen Eliten päppelt und mit Widersachern nicht lange fackelt. Dem historisch ohnehin resignierten und dank Reformchaos politikmüden Wahlvolk haben derweil Konsum und Reisepass als Ersatz für suspekte Demokratie zu genügen. Im Übrigen gilt: "Maul halten!".  
 
Putin will die dritte Amtszeit nach 2008, und unter zynischer Berufung auf fehlende politische Alternativen wird sein Parlament die notwendige Verfassungsänderung rechtzeitig abnicken. Russland, das den Zenit seiner Annäherung an den Westen und dessen demokratische Werte längst überschritten hat, nimmt damit als primus inter paris Aufstellung in einer Reihe mit ehemaligen Unionsrepubliken wie Kasachstan, Weißrussland oder Turkmenien, in denen sich die herrschenden Clans ihre Macht bereits auf Lebenszeit gesichert haben. Bei allem politischen Pragmatismus täte man im Westen gut daran, solche Entwicklungen vor lauter Wirtschaftseuphorie nicht zu unterschätzen.  
 
Der Autor ist seit 1996 für westliche Unternehmen in Moskau tätig.  
 
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