Wer ist Jude?
Arthur Hertzbergs neue Antwort auf eine alte Frage
Die Frage «Wer ist Jude?» veraltet nicht - der amerikanische Rabbiner und
Religionswissenschafter Arthur Hertzberg hat sie für die Gegenwart neu
gestellt. Es ist dies die Gegenwart des fünfzigjährigen israelischen
Staates; es ist die Gegenwart ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust; es
ist aber vor allem auch die Gegenwart der mehr oder weniger säkularen und
«pluralistisch geformten Gesellschaften», der amerikanischen insbesondere,
aus deren Mitte Hertzberg schreibt. Tatsächlich stellt Hertzberg jene Frage
zu einem Zeitpunkt, da sich das Judentum (v. a. in den USA und in Israel) in
einer Konfliktlage befindet, die Züge eines Kulturkampfes trägt. Anzeichen
dafür ist eine zunehmende Polarisierung zwischen einer nahezu völligen
Säkularisation und Assimilation und damit der Minimierung jüdischer
Identität auf der einen Seite und einer orthodoxen Einengung des Judentums
auf ein mit dem modernen Leben schwer vereinbartes Korpus religiöser Werte
und Gesetze auf der anderen Seite.
Hertzberg nun weist beide Extrempositionen zurück und schlägt eine dritte,
vermittelnde Antwort vor, deren Wurzeln in der jüdischen Aufklärung liegen,
der Haskala, und die der Position des amerikanischen Reformjudentums
entspricht. Es ist der Versuch, das Judentum - auch als Religion - für jene
westliche Moderne zu «retten», die Zivilisation (zumindest dem Anspruch
nach) als liberal, demokratisch, pluralistisch und multikulturell versteht.
Hertzberg stellt damit an die jüdische Religion den Anspruch, zugleich
ursprünglich und modern zu sein. Bedingung dafür ist die Vorstellung eines
unwandelbaren «Kerns» des Judentums, eines «jüdischen Charakters . . ., der
mit dem ersten Juden - Abraham - begann und bis zum heutigen Tag
fortdauert». Diese metaphysisch-theologische These eines «ewigen Judentums»
ist es, die seine «Rettung» für die Moderne ermöglicht, mehr noch: die die
Moderne selbst als von jüdischen Werten getragen charakterisiert.
Worin aber besteht die «Identität» des «jüdischen Charakters»? Hertzberg
definiert ihn mit drei «Grundbegriffen»: «der Jude als Erwählter, als
Aufrührer und als Aussenseiter». Den schwierigen und missverständlichen
Begriff der «Erwähltheit» will Hertzberg als Auftrag an die Juden verstanden
wissen, ein «moralisches Vorbild für die Menschheit» zu sein. «Erwähltheit»
ist das Gefühl einer gesteigerten Pflicht, mehr noch; es ist die geradezu
«unentrinnbare Qual, die durch das Gewissen verursacht wird». Als
«Aufrührer» wiederum gelten die Juden nach Hertzberg im Sinne eines
innerjüdischen Nonkonformismus, einer Uneinigkeit gerade darüber nämlich,
was es bedeutet, Jude zu sein. Das Judentum ist nie dogmatisch, sondern
stets vielgestaltig, pluralistisch und durchaus auch «zerstritten». «Für
mich ist der Jude, der Jude sein will», so formulierte es Hertzberg im März
in einer Fernsehsendung.
Als «Aussenseiter» und «Andere» schliesslich erweisen sich die Juden in
ihrem Nonkonformismus gegenüber dem nichtjüdischen Umfeld. Nonkonformisten
freilich sind für Hertzberg genauer jene Juden, die gegen die Assimilation
an einer «jüdischen Andersheit» festhalten. Sie bilden, in Hertzbergs
Worten, geradezu den «erlösenden Rest» des Judentums, der für sein
Fortbestehen immer schon von entscheidender Bedeutung war.
Diese drei Grundformen jüdischer Identität bzw. «Alterität» skizziert
Hertzberg in einem unkonventionellen Durchgang durch die Geschichte des
jüdischen Denkens von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart. Vor allem die
«Porträtgalerie bedeutender moderner Juden» - von Spinoza bis Marx, Freud
und Kafka - erweist sich als ein Panoptikum unterschiedlicher Möglichkeiten,
«jüdisch» zu sein. Hier wird aber auch deutlich, dass Hertzbergs
reformjüdische Theologie solche Pluralität des Judentums letztlich dadurch
garantiert, dass sie die divergierenden Positionen unter einem liberalen
Dach versammelt. Hertzberg fragt nach dem gemeinsamen, zunehmend verborgenen
«jüdischen Wesen» und erkennt es in einem besonderen moralischen Auftrag:
«Judesein verlangt, dass wir bestimmte Dinge tun, weil sie richtig sind, und
nicht, weil sie uns einen persönlichen Vorteil oder materiellen Nutzen
bringen. (. . .) Judesein bedeutet, sein Zelt nach allen Seiten hin zu
öffnen, damit jeder Fremde, der Nahrung und Obdach sucht, eintreten kann.»
So plädiert Hertzberg nicht zuletzt auch für eine Umdeutung des Zionismus:
von der Vorstellung eines exklusiv jüdischen Staates zu einer
«multiethnischen Gesellschaft», in der Araber ebenso wie andere Ethnien
Platz finden.
An solchen ethischen und politischen Überlegungen wird freilich auch
deutlich, dass Hertzbergs Begriff des Judentums letztlich religiös fundiert
ist. Ein Judentum, das sich ausschliesslich durch politische,
gesellschaftliche, kulturelle Werte auszeichnet, würde seine konstitutive
«Andersheit» aufgeben; wenn es weiter bestehen will - diesen Sprung verlangt
Hertzberg -, so muss seine Ethik und Politik letztlich metaphysisch
begründet bleiben: «Judesein bedeutet, an tikkun olam zu glauben, daran,
dass die Welt eines Tages erlöst wird. Judesein heisst, sich von der
Strömung des uralten jüdischen Flusses, der immer weiterfliesst, tragen zu
lassen.»
Andreas Kilcher
Arthur Hertzberg in Zusammenarbeit mit Aron Hirt-Manheimer: Wer ist Jude?
Wesen und Prägung eines Volkes. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert.
Carl-Hanser-Verlag, München 2000. 360 S., Fr. 43.50.
Neue Zürcher Zeitung, 5. Juli 2000