DIE ZEIT augusti woche 33 / 2001
Z E I T G E S C H I C H T E
Der Mauerbau und die Bombe
Von Wilfried Loth
Für Heinrich von Brentano, den Außenminister Adenauers, war der Mauerbau nur
ein erster Schritt zur Ausdehnung der Herrschaft Ulbrichts auf ganz Berlin.
Wenn der Westen nicht "sofort und entschlossen" reagiere, sagte er den
Botschaftern der drei Westmächte am 14. August 1961 in vertraulicher Runde,
würden die Sowjets wohl bald die Zufahrtswege nach West-Berlin schließen.
Tatsächlich, so kann man in dem neuen Buch des Innsbrucker Zeithistorikers
Rolf Steininger nachlesen, war Chruschtschow gerade mächtig in Panik
geraten. Kennedys kämpferische Rede vom 25. Juli hatte bei ihm die
Befürchtung ausgelöst, in Washington hätten die "Falken" das Ruder
übernommen, die für die Wahrung der alliierten Rechte in Berlin tatsächlich
einen Atomkrieg riskieren würden. Diese Gefahr galt es einzudämmen, folglich
mussten Ulbrichts Ambitionen auf ganz Berlin zurückstehen.
Die Zeitgenossen konnten freilich nicht sicher sein, dass Chruschtschow mit
der Entscheidung für die Mauer die Hoffnungen auf eine Einbeziehung
West-Berlins in die DDR schon aufgegeben hatte. Entsprechend gingen die
militärischen Planungen für den Fall einer Behinderung des Verkehrs von und
nach Berlin weiter, und es wurde in den westlichen Hauptstädten auch über
politische Alternativen nachgedacht, mit denen die Gefahr eines Atomkriegs
gebannt werden sollte.
Für Großbritanniens Premierminister Harold Macmillan war es unumgänglich,
die Oder-Neiße-Grenze und bis zu einem gewissen Grade de facto auch die DDR
anzuerkennen, die politischen Bindungen zwischen West-Berlin und der
Bundesrepublik aufzugeben und einen Verzicht der Bundesrepublik auf die
Produktion von Atomwaffen zu Protokoll zu geben. Kennedy dachte an eine
permanente Konferenz alliierter Außenministerstellvertreter in Berlin, die
die Anerkennung der Grenzen in Europa und die Nichtweitergabe von Atomwaffen
Schritt für Schritt voranbringen würde.
Steininger wirft Briten und Amerikanern vor, sie hätten nach dem Mauerbau
"beinahe um jeden Preis mit den Sowjets über die ,neuen Realitäten
verhandeln" wollen, "was nur auf Kosten der Deutschen gegangen wäre". Dabei
bleibt jedoch außer Acht, dass angesichts der Gefahr eines Atomkriegs selbst
Adenauer auf Verhandlungen drängte. Dass der Kanzler vom Rhein später de
Gaulles Widerwillen gegen Verhandlungen dazu nutzte, Verhandlungsergebnisse
hinauszuzögern, die ihm innenpolitisch schaden konnten, sollte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass er letztlich ebenfalls zur Hinnahme der Realitäten
bereit war.
De Gaulle wollte mit den Sowjets nicht verhandeln, weil er ein Abdriften der
beiden deutschen Staaten in die Neutralität befürchtete und die Option auf
eine europäische Atomwaffe gewahrt wissen wollte, die von der Bundesrepublik
mitgetragen wurde. Das hinderte ihn aber nicht, dem amerikanischen
Präsidenten einzuschärfen, sich in der Berlin-Frage niemals derart
festzulegen, dass im Falle einer Eskalation nur noch der Ausweg eines
Krieges bleiben würde.
Wie die Alternative ausgesehen hätte, wird aus einem Pentagon-Papier
deutlich, das am 10. Oktober 1961 im Weißen Haus diskutiert wurde. Danach
sollte die Nato auf eine Blockierung der Zufahrtswege nach Berlin mit
Wirtschaftsembargo, Vorstoß auf DDR-Territorium und Seeblockade reagieren.
Wenn die Sowjets daraufhin lebenswichtige Einrichtungen der Alliierten
angreifen würden, sollte mit dem Einsatz von Nuklearwaffen auf "ausgewählte
Ziele" begonnen werden. Als Kennedy in der Runde vom 10. Oktober wissen
wollte, ob man den Atomwaffeneinsatz begrenzen könne, bekam er
gegensätzliche Antworten zu hören. Schließlich wurde das Papier offiziell
gebilligt, es blieb aber offen, ob man sich tatsächlich auf die vorgesehene
Eskalation einlassen würde.
Steiningers Funde in britischen und amerikanischen Archiven bieten
reichhaltiges Anschauungsmaterial, wie Politiker aller Couleur in den Jahren
der Berlin-Krise lernten, mit der Atombombe zu leben. Dass sie an der großen
Katastrophe vorbeischifften, mutet im Nachhinein wie ein Wunder an.
Rolf Steininger: : Der Mauerbau Die Westmächte und Adenauer in der
Berlinkrise 1958-1963; Olzog Verlag, München 2001; 411 S., 36,- DM