24 juni 2000
FRANKREICH
Das Gewissen der Republik
von Lutz Krusche
Die Frau Richterin konnte es nicht fassen: Kaum war sie ernannt worden,
musste sie immer wieder feststellen, dass sie von oben massiv behindert
wurde. Künstlich geschaffene Arbeitsüberlastung, mediocre Vorgesetzte,
Mangel an Arbeitsräumen, willkürliche Versetzungen. Als die Richterin trotz
allem eine Schlüsselposition erreicht hatte - sie war zuständig für die
Aufklärung der großen Finanzskandale in Frankreich -, dämmerte es ihr, worin
all diese Behinderungen ihren Ursprung haben könnten: Es fehle in Frankreich
der politische Wille, so erklärte sie, die organisierte Kriminalität
aufzuklären. Und warum? Weil Politik und Wirtschaft in einer unseligen
Verbandelung mit den Methoden der Mafia arbeiteten. Frankreich hörte das
nicht gern, aber das Land merkte auf.
Die grausamen Töne kommen von Eva Joly, 54 Jahre alt. Die
Untersuchungsrichterin hat in Skandalen ermittelt, die die Republik
erschütterten, in denen es um hunderte von Milliarden Francs ging und noch
immer geht. Das sind in erster Linie die Schiebereien um die Staatsbank
Crédit Lyonnais und die gigantischen Affären um den Oel-Multi Elf Aquitaine,
dessen Kraken-Arme afrikanische Diktatoren umklammerten und sich bis nach
Deutschland (Leuna-Skandal, CDU-Spenden) gereckt haben sollen. Die
knallharte Eva Joly hat den Finanzgauner, Ex-Minister und Präsidenten des
Fußballclubs Olympique Marseille, Bernard Tapie, zur Strecke gebracht. Sie
hat die Elf-Schmiergeldtante Christine Deviers-Joncours (selbst ernannte
"Nutte der Republik") in U-Haft gesteckt. Und sie arbeitet derzeit am
Verfahren gegen ihren bislang pro-
minentesten Angeklagten: Ex-Außenminister Roland Dumas, der von
Schmuddel-Geldern profitiert haben soll.
Was Eva Joly mehr noch als sonst in die Medien katapultiert hat, ist ein
Buch, das im richtigen Augenblick erscheint. Nämlich jetzt. Frankreich ächzt
unter der Aufklärung, oder eher: Nicht-Aufklärung von Skandalen, von Elf bis
zu den Durchstechereien im Pariser Rathaus, die alle in die Jahre
zurückreichen, in denen Staatspräsident Jacques Chirac dort wie ein
mittelalterlicher Duodez-Fürst herrschte.
In ihrem Buch mit dem Titel "Notre affaire tous" (Etwa: Das geht uns alle
an) befasst sich Joly mit dem Frankreich beherrschenden System, das all
diese Korruption erst möglich gemacht hat. Und das ist neu. Die unorthodoxe
Betrachtungsweise der Zustände in dem überwiegend katholischen,
erzkonservativen und von Eliten beherrschten Frankreich geht wohl zurück auf
Jolys Herkunft. Sie ist Norwegerin und obendrein protestantisch. Als
Aupairgirl Eva Grous kam sie einst nach Paris, wo sie in eine
Juristenfamilie einheiratete. Schon ihre Devise "Ich bin nicht eine Frau der
Ideen, sondern der Aktion", stellte sie wie eine Drahtbürste gegen das
geschmeidige Flechtwerk der französischen Hierarchien. Vielleicht hatte die
Politik, die in Frankreich Staatsanwälte und auch Richter gängelt, sie auf
die großen Brocken angesetzt in der Überzeugung, dass sie sich an denen die
Zähne ausbeißen würde.
Falsch gedacht. Die rigide Skandinavierin erkannte, dass sie es zu tun hatte
mit "Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft, geknüpft im Zweiten
Weltkrieg, im Algerien-Krieg, und parteiübergreifend". Und sie kam zu einer
Einsicht, die richtig ist, die aber ein Richter bisher nicht ausgesprochen
hat: In Frankreich gibt es eine Oberklasse, die sich über jedes Gesetz
erhaben glaubt. Diese um die dreißig höchsten Würdenträger, Minister,
Abgeordnete, Industrie-Tycoons, gegen die derzeit Ermittlungsverfahren
laufen, haben bestochen, kassiert und verteilt, weil es ihnen einfach
unvorstellbar war, dass ein kleiner Richter, "un petit juge", sich an sie
heranwagen würde.
Prompt wurde Eva Joly bedroht, sie ging nur noch mit Leibwächtern vor die
Tür. Sie wurde als mediensüchtig diffamiert. Man entzog ihr Mitarbeiter und
schüttete sie mit Bagatellen zu. Über ihre wichtigsten Zeugen sagt sie, sie
seien "illegal abgehört" worden. Einige sind tot. Aber das gewaltige
Interesse an der wackeren Dame zeigt, dass in Frankreich mit seinen
Tendenzen zur "Bananenrepublik" ("Le Monde") ein Umdenken eingesetzt hat.
Die Eliten sind nicht mehr tabu. Ein wichtiges Wort Jolys ist auf
fruchtbaren Boden gefallen: Die große Wirtschaftskriminalität ist eine
Bedrohung für die Demokratie.