Deutschland droht die Isolation
Die deutsche Kritik an den USA ist ein Vorwand für die Neuorientierung der Außenpolitik. Der Bruch war kein Zufall
Von Henry Kissinger
Die Gründe für die plötzliche Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen sind vielfältig. Manche schreiben den Wechsel der deutschen Politik einem wahlbedingten Opportunismus zu. Aber das Motiv Kanzler Schröders ist nicht das Problem, sondern das Ergebnis. Denn die anti-amerikanische Kampagne richtete sich ganz klar an eine Wählerschaft, die groß genug war, um die zu erwartende Niederlage Schröders in einen Sieg zu verwandeln. Demnach könnte Anti-Amerikanismus zu einem dauerhaften Merkmal deutscher Politik werden.
Das ist ganz besonders für jene unter uns schmerzlich, die das gefördert haben, was wir als eine der stolzesten Leistungen der amerikanischen Nachkriegspolitik betrachten: die Wiederaufnahme Deutschlands in die Gemeinschaft der Nationen als gleichberechtigtes, unentbehrliches Mitglied. Dieser Weg war geprägt von der Berliner Luftbrücke, dem Marshall-Plan, der Unterstützung der deutschen Mitgliedschaft in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft, der (nach anfänglichem Zweifel) amerikanischen Unterstützung bei der Aussöhnung mit dem Osten und schließlich der bedingungslosen Unterstützung der Wiedervereinigung trotz des Zögerns anderer Verbündeter. Deutschlands Beitrag zu den guten Beziehungen war die beherzte Entscheidung, auf die Wiedervereinigung zu verzichten, als Stalin sie im Gegenzug für Deutschlands Ablehnung der NATO anbot, und stattdessen seine Zukunft mit der Europäischen Gemeinschaft und der atlantischen Partnerschaft zu verknüpfen.
Das Schmieden eines gemeinsamen Schicksals verhinderte nicht gelegentliche Meinungsverschiedenheiten. Aber sie basierten bis dato auf unterschiedlichen Interpretationen von unangefochtenen gemeinsamen Interessen. Dies erklärt den Schock, als plötzlich, ohne Vorwarnung oder Rücksprache, die Irak-Politik der USA zum Wahlkampfthema wurde.
Das Ende des Kalten Krieges hat die Angst vor einer gemeinsamen Gefahr beseitigt. Vierzig Jahre lang sah die deutsche Regierung im amerikanischen Verbündeten den Schlüssel für die Sicherheit und die politische Legitimität des neuen Deutschlands. Keine andere Grundlage hat heute noch eine ähnliche Bedeutung. Deutschland verspürt zu Recht nicht mehr die Notwendigkeit, einen Preis zu zahlen, um seine Legitimität zu rechtfertigen. So wurde das Thema Irak zu einem Vorwand für eine stärker national ausgerichtete Neuorientierung der deutschen Außenpolitik. Die Generation derjenigen, die die amerikanisch-deutschen Beziehungen ausbauten, verlässt die politische Bühne. Auf der amerikanischen Seite waren dies Politiker aus dem Ostküsten-Establishment und einige Emigranten, die dank ihrer persönlichen Beziehungen die geistigen Krisen Deutschlands verstanden und an das große Potenzial des deutschen Volkes glaubten. Auf deutscher Seite hatten sich die Nachkriegspolitiker bewusst von der Vergangenheit abgewandt und sahen ihr höchstes Ziel darin, einen Ruf der Verlässlichkeit innerhalb Europas und der atlantischen Gemeinschaft zu etablieren.
Die neue Generation von Politikern auf beiden Seiten des Atlantiks hat die Erfahrungen des Kriegs und des Wiederaufbaus nicht geteilt. Sie machen sich auch keine Gedanken um Gefahren von außerhalb oder halten sich für fähig genug, damit umzugehen. Die Atlantische Allianz, früher einmal im Zentrum der Politik, konzentriert sich auf ihre Erweiterung - einschließlich der ehemaligen Feinde - und somit auf ihre Ausdehnung ohne Neubestimmung ihres Zwecks. In den USA hat sich das politische Kraftzentrum auf die Mitte des Landes verschoben, eine Region, deren Führer über weniger ausgeprägte Bindungen an Europa und weniger Erfahrungen mit den damit verbundenen Herausforderungen verfügen als ihre Vorgänger. Sie sitzen in einem militärisch überlegenen Amerika am Ruder, das seine Methoden gegenüber Allianzen modifiziert hat.
Als Opfer des 11. September und als dominante Militärmacht fühlen sich die USA verantwortlich für die globale Sicherheit. Aber in Europa liegt der Brennpunkt eher auf der nationalen Politik. Die europäischen Politiker wenden enorm viel Zeit für die technischen Einzelheiten der europäischen Einheit auf - für die meisten Amerikaner ein sonderbares Thema. Diese Betonung von Bürokratie und rechtlichen Vereinbarungen steht im Gegensatz zu den USA, die mehr Wert auf ihren außergewöhnlichen Charakter und die Übertragbarkeit ihrer Institutionen auf den Rest der Welt legen.
Deutschland ist dadurch ganz besonders gefordert. Es hat seine nationale Einheit später als alle anderen europäischen Länder erreicht und verfügt deshalb über weniger Tradition in der weltweiten Außenpolitik als andere wichtige Länder Westeuropas. Seine nationalen Probleme sind viel gravierender. Es wird von einer Koalition regiert, deren Führer ihre Erfahrungen in den Protesten gegen die amerikanische Vietnam-Politik sammelten. In den siebziger Jahren gab die Regierungspartei SPD der Einheit Vorrang gegenüber der NATO und überstimmte einen ihrer Kanzler, Helmut Schmidt, weil er bereit war, NATO-Raketen auf deutschem Boden zu stationieren. Die Grünen waren gegen jegliche militärischen Bindungen an den Westen, bis sie an die Macht kamen. Politiker mit Weitblick aus beiden Parteien haben Regierungsprogramme ermöglicht, die das atlantische Bündnis stützten. Dies zwar nicht gerade leidenschaftlich, sondern auf der Basis realistischer Einschätzungen. Aber es blieb bei beiden Parteien ein Bodensatz, der durch einen Appell an den traditionellen Anti-Amerikanismus leicht mobilisiert werden kann - besonders, wenn solche Kritik von der Regierung kommt.
Diese Situation verschlimmert sich durch den speziellen psychologischen Zustand Ostdeutschlands. Ostdeutschland war vom Nationalsozialismus in den Kommunismus geraten, und das ohne jegliche Demokratieerfahrung. Seine Bevölkerung betrachtet sich eher als Opfer der Geschichte und bis zu einem gewissen Maß auch der westlichen Globalisierung. Sie ist nicht vertraut mit westlichen Strategien oder geopolitischen Betrachtungsweisen und sucht Sicherheit in einem abstrakten Moralismus, der zum Pazifismus neigt. Damit fühlt man sich seinem mächtigen Verbündeten gegenüber ethisch überlegen. So wurde am Ende des deutschen Wahlkampfs der Sieg möglicherweise durch eine Kombination aus Pazifismus, linkem und rechtem Nationalismus und dem Beschwören eines spezifisch deutschen Wegs, der an das wilhelminische Deutschland erinnert, errungen. Aber wenn Deutschland die USA beleidigt, die Haltung der Vereinten Nationen ablehnt und ohne Rücksprache mit den anderen europäischen Staaten im Namen eines "deutschen Wegs" handelt, drohen ihm Isolation und eine Rückkehr zu den europäischen Verhältnissen vor dem Ersten Weltkrieg.
Kein Land sollte aufgefordert werden, gegen seine eigenen Interessen oder Vorstellungen von gesundem Menschenverstand zu handeln. Aber es darf auch keine Außenpolitik betreiben, die die Ansichten anderer Gesellschaften - insbesondere enger Verbündeter - nicht berücksichtigt, besonders wenn es sich im Zentrum eines Kontinents befindet. Deshalb ist der neue deutsche Weg nicht nur eine Herausforderung für die USA, sondern auch für Europa. Er bedeutet das Ende der Akzeptanz der politischen Führung durch die Franzosen in europäischen Angelegenheiten, die das Merkmal der deutschen Politik vor der Wiedervereinigung war. Er lässt Fragen nach dem Anspruch europäischer Führerschaft aufkommen, vielleicht in Kooperation mit Russland, das manchen preußischen Ideen des 19. Jahrhunderts wieder Beachtung schenkt. Und er lässt Fragen zur Ausrichtung der erweiterten Atlantischen Allianz aufkommen. Deutschland ist zu wichtig für Europa und Amerika, als dass es nicht an der Überwindung der bestehenden Spannungen arbeiten sollte. Aber es muss erkennen, dass der Riss nicht allein ein Zufall war. Er lässt sich nicht heilen, indem man vorgibt, dies alles sei auf der Basis persönlicher Beziehungen zu kitten.
Die kolportierten Meldungen, wonach Deutschland seine Kampagne durch einen finanziellen Beitrag wie etwa für den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan wieder wettmachen könne, gehen am Kern des Themas vorbei. Die USA sollten sich auch nicht bemühen, Deutschland für seine Irak-Politik zu gewinnen. Diese Entscheidungen sollten Berlin ohne Druck oder Überredung überlassen bleiben. Das internationale Umfeld wird genügend Situationen herbeiführen, in denen beide Seiten testen können, ob sie zu gemeinsamen Ansätzen fähig sind. Eine nüchterne, realistische Annäherung beider Seiten ist angezeigt. Es besteht kein Anlass für gegenseitige Beschuldigungen, aber es macht auch keinen Sinn zu bestreiten, dass ein Stück Vertrauen verloren gegangen ist.
Eine Hauptanstrengung sollte es sein, mit den Bedingungen umzugehen, die im explosiven Mix des deutschen Wahlkampfs entstanden sind. Beide Seiten wären gut beraten, die Sorgen der jeweils anderen Seite ernst zu nehmen. Sie müssen versuchen, Antworten zu finden auf die grundsätzlichen Fragen zur Ausrichtung der Atlantischen Allianz, zu den Beziehungen zwischen Europa und Amerika und zur Definition eines deutschen Weges, der die richtigen Lektionen aus der Geschichte zieht.