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Toni Schönfelder
A lifetime of innovation

russland  
 
Wo der Mensch kein Mensch ist  
 
Beim Massaker von Beslan versagten die russischen Sicherheitskräfte. Wieder einmal. Die Geringschätzung des Lebens zieht sich durch die russische Geschichte bis heute. Der Staat ist alles, der Bürger nichts  
 
Von Johannes Voswinkel  
 
Moskau  
 
Vor dem Kulturpalast im nordossetischen Beslan warteten die Menschen am vergangenen Freitag wütend auf eine Botschaft aus Moskau. Doch Präsident Wladimir Putin hatte ihnen nichts zu sagen. Angehörige der Geiseln beschimpften Journalisten, nachdem das russische Fernsehen der Anweisung gefolgt war, nur von 354 Geiseln zu sprechen. Die Lüge empörte die Menschen, da die Regierung das Leben ihrer Angehörigen nicht einmal einer Ziffer wert befand. Sie selbst zählten 1136 Geiseln. Am Tag zuvor hatte Putin kurz sein Schweigen gebrochen und dem jordanischen König in Moskau mitgeteilt, die Befreiung der Geiseln sei oberstes Ziel. Das Volk durfte im Fernsehen mithören und schöpfte Hoffnung. Doch kurz nach 13 Uhr gab es eine Explosion, deren Schockwellen der knapp 1900 Kilometer entfernte Kreml bis heute spürt.  
 
Vermutlich ist eine der Bomben im Inneren der Sporthalle detoniert. Draußen wollen gerade vier Katastrophenschützer Leichen auf dem Schulhof bergen. Die Fenster fliegen aus dem Rahmen, eine Bresche in der Mauer bricht auf. Der Knall reißt die Geiseln aus der Trance. Mütter werfen ihre Kinder ins Freie. Die Terroristen vermuten einen Sturmangriff und schießen auf die Katastrophenschützer. Der Einsatzstab vereinbart am Telefon mit den Terroristen eine Feuerpause. Doch die ossetischen Freiwilligenkämpfer rund um die Schule, die ihre Flinten und Maschinengewehre aus dem Keller geholt haben, wollen persönlich mit den Geiselnehmern kurzen Prozess machen. Sie schießen weiter.  
 
Die russischen Spezialeinheiten Alfa und Wympel müssen erst mobilisiert werden. Sie hatten das Gebäude noch nicht in Sektoren aufgeteilt und das gemeinsame Vorgehen nicht abgesprochen. Es gibt keinen Handlungsplan für den Notfall, keinen Sicherheitskordon um die Schule. Die Schießerei eskaliert zum Häuserkampf inmitten von Kindern und Müttern. Die Minenräumer haben nicht mal ihre kugelsicheren Westen dabei. »Nicht schießen, hier sind Kinder!«, schreien einige Geiseln. Doch die Terroristen feuern auf die Fliehenden. Es herrscht Chaos.  
 
Zwischen den Kindern liegen Stolperdrähte als Bombenzünder  
 
»Hier wohnen Menschen« stand jahrelang auf die Haustore in Tschetscheniens Hauptstadt Grosnyj geschrieben. Die Toraufschriften haben nicht viel geholfen im zweiten Tschetschenienkrieg, der Putins Aufstieg zum Präsidenten Russlands ebnete. Sein Ziel, den Nordrand des Kaukasus zu befrieden, endete im Versuch, Grausamkeit mit Erbarmungslosigkeit zu bekämpfen. Beslan und Grosnyj formen mit Moskau die Eckpunkte eines Dreiecks der Gewalt, die sich mit einer undenkbaren Verachtung des menschlichen Lebens über den ganzen Kaukasus verbreitet. Der Präsident fällt auf dem Höhepunkt seiner Macht in eine tiefe Krise, die ihn sogar zwingt, seinen lang geplanten Deutschlandbesuch kurzfristig abzusagen. Die Stärke, die Putin in fünf Jahren autoritär erzwungen hat, wird nun zur Schwäche.  
 
Herausgefordert haben Russlands Präsidenten etwa 30 schwer bewaffnete Kämpfer, die am Morgen des 1. September mit einem Lastwagen auf Nebenstrecken unkontrolliert bis nach Beslan fuhren. Als gegen neun Uhr morgens auf dem Hof der Mittelschule Nr. 1 das feierliche Ritual für die Erstklässler begann, trieben die Terroristen die Schüler, Lehrer und Eltern mit Schüssen ins Schulgebäude. Unter den Bodenplanken der Sporthalle hatten sie während Bauarbeiten im Sommer Sprengstoff und Munition versteckt.  
 
Die 12-jährige Dseraissa Dsestelowa stellte sich im Sportsaal zu ihrer Freundin Salina, der Enkelin der Schuldirektorin. Trotz der eingeschlagenen Oberlichter wurde es immer stickiger. Dseraissa zog bald ihr dunkelblaues Schulkostüm und die Strumpfhosen aus. Zwischen Gruppen von Kindern waren Stolperdrähte gespannt als Auslöser der Sprengsätze. »In der Mitte hing eine Bombe am Seil, eine Plastikflasche, die mit braunem Klebeband umwickelt war«, erzählt das schlanke, bleiche Mädchen. »Sie hing so tief, dass wir mit unseren Köpfen aufpassen mussten.« In den Basketballkörben lagen weitere Sprengsätze.  
 
Außer Putin findet sich keiner, der noch Verantwortung übernimmt  
 
Präsident Putin stand vor seiner schwersten Entscheidung: Sollte er die Unnachgiebigkeit gegenüber den Terroristen über das Leben der Kinder stellen? Sie wurde ihm erspart. Doch die Bilder aus Beslan legen sich wie eine graue Folie über seine zweite Amtszeit: Mindestens 335 Tote, darunter 156 Kinder, und mehr als 332 Verletzte hat die Geiselnahme gefordert.  
 
Wenige Tage zuvor holten Terroristen zwei Flugzeuge über Südrussland vom Himmel. Vermutlich hat Aminat Nagajewa eine der Passagiermaschinen in die Luft gesprengt. Vor drei Jahren war ihr Bruder von russischen Soldaten abgeführt worden. Seitdem ist er verschwunden. Am Vorabend der Geiselnahme von Beslan hat anscheinend Aminats jüngere Schwester Rosa als Selbstmordattentäterin zehn Menschen vor einer Metrostation in Moskau in den Tod gerissen. Schon im Jahr vor Beslan waren 250 Menschen bei Terroranschlägen umgekommen. Russlands Staat kann das Leben seiner Bürger nicht schützen.  
 
 
 
In dieser Woche des Terrors wirkte Putin an der Spitze seiner Machtpyramide weit entfernt und einsam. In den gleichgeschalteten Parlamentskammern und unter den domestizierten Regionalführern fanden sich keine eigenständigen Politiker mehr, die Verantwortung übernahmen. Die Abgeordneten duckten sich in die Parlamentspause weg, der Ministerpräsident sagte besser gar nichts. Effektivität, so zeigte sich, braucht den Pluralismus der Interessen und Meinungen. Eine dritte Kraft, die in Beslan hätte vermitteln können, ist längst geknebelt oder ins Abseits gedrängt worden.  
 
Kein Moskauer Verhandlungspartner von politischer Statur kam an den Ort der Geiselnahme. Die lokalen Paladine des Kreml verweigerten das Gespräch mit den Terroristen. Der neue tschetschenische Präsident Alchanow nahm lieber in seiner Heimat Wahlglückwünsche entgegen. Der Regierungschef der Nachbarrepublik Inguschetien, Ex-KGB-Offizier Murat Sjasikow, aus dessen Gefängnissen die Geiselnehmer Mitkämpfer freipressen wollten, sagte nur: »Man versucht, mich da reinzuziehen, aber ich werde mich nicht damit beschäftigen.« Nur sein Vorgänger Ruslan Auschew, den der Kreml einst aus dem Amt gescheucht hatte, marschierte am vergangenen Donnerstag in die Sporthalle und konnte 26 Geiseln befreien. Doch das Chaos beim Sturm auf die Schule machte alle Zuversicht zunichte.  
 
Nach der ersten Explosion reagiert Dseraissa schneller als andere. Sie springt zum Fenster und rettet sich ins Freie. »Es war so schwer«, sagt sie, »alle wollten gleichzeitig raus.« Sie schneidet sich an den Scherben und kann sich ins Krankenhaus retten. Ihre Freundin Salina trifft eine Kugel am Bein. Männer in Tarnanzügen tragen die Kinder auf ihren Händen weg. Als die Minenräumer in die Halle eindringen, liegt der Boden voller Körper. Eine Bombe am brennenden Basketballkorbring hat schon Feuer gefangen. Die Helfer ziehen sich zurück, schleppen dabei noch einige Kinder heraus. Dann gibt es eine weitere Explosion, und das Dach stürzt ein. Das Lagezentrum des Innenministeriums meldet wenig später: Zur Zeit der Explosion seien keine Kinder mehr im Sportsaal gewesen.  
 
Schon oft endeten Geiselbefreiungen in Russland in einem Fiasko. Im Juni 1995 hatte sich ein Tschetschenenkommando mit 1500 Geiseln im Krankenhaus von Budjonnowsk verschanzt. Premierminister Wiktor Tschernomyrdin vereinbarte einen freien Abzug. Zurück blieben 166 Tote. Ein halbes Jahr später verließen tschetschenische Geiselnehmer in einer Autokolonne mit ihren Geiseln das Krankenhaus von Kisljar. Es gab 78 Tote. Als im Oktober 2002 Spezialeinheiten das Musicaltheater Nord-Ost stürmten, starben 129 Menschen zumeist an den Folgen des eingesetzten Kampfgases.  
 
Schuld tragen die weit verbreitete Korruption, der sprichwörtliche Schlendrian und vor allem das ineffektive Management der Geheimdienste. An der Spitze des KGB-Nachfolgers FSB sitzt mit Nikolaj Patruschew ein Freund Putins. Sein Dienst wittert überall Spione, observiert Wissenschaftler und befragt junge Journalisten nach ihren Auslandspraktika. Er sichert vor allem das System ab und nicht die Gesellschaft. Der FSB und der militärische Aufklärungsdienst GRU sind einander in Feindschaft verbunden. Die Dienste unterliegen keiner gesellschaftlichen oder parlamentarischen Kontrolle. Der Geheimhaltungskult soll das fehlende Verantwortungsbewusstsein ihrer Führung verbergen. Nach dem Sturm des Musicaltheaters Nord-Ost gab es keine offizielle Untersuchung. Auch nach dem Blutbad in Beslan beharrt Putin auf einer nichtöffentlichen Analyse. Aber er kündigte eine weitere Reform der Geheimdienste an. Die hatte er bereits vor zwei Monaten durchgeführt – zur »Optimierung der Arbeit« des Staates.  
 
Die Geringschätzung des menschlichen Lebens hingegen zieht sich durch die russische Geschichte bis heute. Die Untertanen galten jahrhundertelang vor allem als mögliche Soldaten für eine Armee, die traditionell Qualität durch Masse ersetzte. Von klein auf lernten Sowjetbürger, Patriotismus sei die Bereitschaft zu sterben. Der Tod des Soldaten gilt bis heute als physische Winzigkeit gegenüber der Größe der erretteten Nation. Nach seinem Einsatz im zweiten Tschetschenienkrieg kam Hauptmann Sergej von den Innenministeriumstruppen in seine Heimatstadt Uljanowsk zurück. »›Passt auf die Technik auf‹, befahl unser Kommandeur«, erzählt er noch immer verstört. »Neue Leute können wir euch nachschicken.«  
 
Nach dem Untergang des Atom-U-Bootes Kursk im August 2000 brach Präsident Putin seinen Urlaub in Sotschi erst nach mehreren Tagen ab. Das wirkte herzlos und zynisch. Als er dann die Garnisonsstadt Widjajewo am Weißen Meer besuchte, überfielen ihn die Angehörigen der Seeleute mit Protest und Vorwürfen. Putins PR-Strategen haben aus dieser Demütigung gelernt: Am Samstag flog der Präsident nach Beslan ein – früh, als alle noch schliefen. Vor der Fernsehkamera im Krankenhaus tätschelte Putin einigen Opfern den Arm. Für die Angehörigen hatte er weder Zeit übrig noch eine Bitte um Verzeihung wie nach dem Sturm des Musicaltheaters.  
 
Aber er hielt eine Rede an die Nation. Sichtlich mitgenommen, gestand der Präsident in Bürokratensprache Fehler ein: »Wir haben der Schwierigkeit und Gefährlichkeit der Prozesse, die in unserem Land und der Welt insgesamt vor sich gehen, nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet.« Er machte Abstecher in die Historie des Zerfalls der Sowjetunion, kritisierte das Justizsystem und die Korruption, bis alle ein bisschen Schuld hatten. Tschetschenien erwähnte er gar nicht.  
 
Die Ursache des Terrorismus ortete Putin im Ausland. Der Geheimdienst meldete beflissen dazu, zehn der Geiselnehmer seien Araber und einer sogar ein Neger. »Der Terroranschlag von Beslan ist ein Überfall auf unser Land«, sagte Putin. Nun müsse sich die Nation mobilisieren, um den Feind zu besiegen. Die Anspielung auf die heldenreiche Landesverteidigung während des Zweiten Weltkriegs unterstrich der staatlich kontrollierte erste Fernsehkanal, indem er am Sonntag das Programm änderte und zwei sowjetische Kriegsfilme abspielte. Putin bleibt bei der einspurigen Politik der Härte.  
 
Die Russen reagieren auf die Geiselnahme mit Wut und Mitleid. In den großen Städten haben am Dienstag über 100000 Menschen gegen den Terror demonstriert. Dennoch ist eine bürgerliche Massenbewegung, welche die Machthaber zum Umdenken zwingen könnte, nicht zu erwarten. »Als Folge des sowjetischen totalitären Systems nehmen die meisten eine Position der Distanz und Passivität ein«, erklärt der Soziologe Boris Dubin.  
 
In Beslan herrscht bisher die Trauer über die Wut. Die Stadtverwaltung hat eine fußballfeldgroße Wiese als neuen Friedhof ausgewiesen. Doch noch immer suchen Menschen nach ihren Kindern, zeigen vor dem Krankenhaus Fotoalben mit dem Titel Meine Klasse und Einschulungsfotos der Vermissten. Viele besuchen die Ruine der Schule in der Hoffnung, das Geschehene besser zu verstehen. Auf einer Tafel zwischen den Scherben und dem Putzschutt im ersten Stock hängt der Katastrophenplan: Für Alarm viermal klingeln. Zwischen den Mauerresten der Sporthalle stehen jetzt Wasserflaschen gegen den Durst. Eine Frau ordnet die verrußten Kinderschuhe unter einer verkohlten Sprossenwand. Den linken stellt sie links neben den rechten. Wenn schon im Land alle Ordnung verloren scheint, soll sie wenigstens jetzt im Sportsaal herrschen.  

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