30 augusti 2000
Zeitbombe Russland
Der gesamte militärisch-industrielle Komplex zerfällt - Von Manfred Quiring
Russland ist erschüttert. Auch die letzten, unangreifbar scheinenden Symbole der Größe und des nationalen Stolzes brechen in sich zusammen. Unsinkbare U-Boote sinken und es gibt keine Rettungsmittel. Erdölleitungen bersten und niemand kommt mit den Reparaturarbeiten hinterher. Das Öl fließt in die Natur, und keinen kümmert das. Ein Fernsehturm, an dem nicht nur das Nationalgefühl, sondern auch die TV-Übertragungskapazität für Millionen Menschen hängt, brennt, und es gibt keine angemessenen Löschmittel.
Es ist der August, stöhnt so mancher Russe, der dem weit verbreiteten Aberglauben anhängt. Dieser Monat des Sommers hat inzwischen einen überaus schlechten Ruf. Da war der Augustputsch von 1991, die Finanzkrise 1998 fand im gleichen Monat statt, und im vergangenen Jahr explodierte im Einkaufszentrum an der Moskauer Manege eine Bombe. Wann, so fragt man sich, nun schon nicht mehr an den «bösen Monat August» glaubend, ereilt uns das nächste Verhängnis. Und wo?
Denn die jüngsten Ereignisse, vor allem der grausige Tod von 118 Seeleuten auf dem Grunde der Barentssee, haben deutlich gemacht: Russland, das viele wohlmeinende Beobachter auch im westlichen Ausland bereits auf dem aufsteigenden Ast wähnten, ist eine tickende Zeitbombe. Die in sowjetischer Zeit mit einem gewaltigen Aufwand errichteten Prestigeobjekte, vor allem die Fabriken des militärisch-industriellen Komplexes, zerfallen langsam und unter Schmerzen.
Im Grunde genommen ist es eine Ansammlung von mehreren Zeitbomben. Es sind nicht nur die Atom-U-Boote, es betrifft auch Atomkraftwerke, Chemieunternehmen und Tausende Fabriken der Rüstungsindustrie. Sie existierten in den letzten zehn Jahren vielfach nur noch nach dem physikalischen Trägheitsgesetz. Das bezeichnet ein Beharrungsvermögen, den Drang eines einmal angestoßenen Körpers, seine Bewegung in gleicher Richtung fortzusetzen. Bis die Energie aufgebraucht ist.
Dieser Moment scheint für Russland gekommen. Die Rüstungs- , aber auch die zivile Industrie, wo Investition seit über einem Jahrzehnt als Fremdwort gilt, sind endgültig an ihre Grenzen gestoßen. Selbst der jetzt beschworene leichte Aufschwung, so er nicht ohnehin dem Erdölpreis zu danken ist, gründet sich auf verschlissene Anlagen, die schon vor zwanzig oder dreißig Jahren veraltet waren. Ihre Tage sind gezählt, Havarien geradezu zwangsläufig.
Für Putin sollte die Erkenntnis herangereift sein, dass seine hochfliegenden Vorstellungen von der Großmacht Russland, deren Flagge auf allen Weltmeeren flattert, auf tönernen Füßen stehen. Russland hat ein Sicherheitsproblem. Doch es ist nicht vom Ausland hereingetragen worden. Und es ist nur insofern militärischer Natur, als das Militär und die Rüstungsindustrie - noch immer missverstanden als Rückgrat eines starken Staates - selbst zum Sicherheitsrisiko für Russland geworden sind.
Will Moskau sich davor schützen, muss es sich einigen sicher unangenehmen Wahrheiten stellen. Der ersehnte und dem Land zu wünschende Wirtschaftsaufschwung bleibt so lange auf Sand gebaut, wie nicht in ausreichendem Maße in die entscheidenden Industriezweige investiert wird. Die Ansprüche müssen mit den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten in Übereinstimmung gebracht werden. Natürlich braucht auch die Armee Geld, um die Sicherheit der Mannschaften und Waffen zu gewährleisten. Doch es gilt, Abschied zu nehmen von nicht finanzierbaren Luftschlössern.
Und die russische Führung muss sich zur Konzentration der gegenwärtig etwas reichlicher in die Kassen fließenden Mittel auf das Wesentliche durchringen: auf die Modernisierung von Industriezweigen, mit deren Produkten das Land tatsächlich aus der Krise herausfinden kann. Doch auch nach den jüngsten Erfahrungen ist von einem Umdenken in der russischen Führung nichts zu spüren. Zumal es im Moment keine politische Kraft im Lande gibt, die in diese Richtung wirken würde.
Alle zusätzlichen Gelder, die im kommenden Jahr über die im Budget veranschlagte Summe hinaus eingenommen werden sollten, werden automatisch der Armee zugute kommen, versprach der russische Premier Kassjanow dieser Tage. Das gleicht der Blutspende eines ohnehin an Auszehrung Leidenden für das falsche Objekt.